Hans H. Diebners Forschung

Kognitive Systeme und Gehirndynamik

Kognition ist kein einheitlich definierter Begriff. Man kann Kognition als Verarbeitung von Information aus der Umwelt eines handelnden Agentens zum Zwecke der Handlungs- bzw. Verhaltenssteuerung auffassen. Damit wälzt man das Problem auf andere, ebenfalls nicht einheitlich definierte Begriffe wie "Information" oder "Agent" ab. Die Frage, ob so ein Agent irgendwie willentlich zu dieser Informationsverarbeitung beisteuert, führt uns schnell in philosphische Kausalitätsbetrachtungen, etwa der Agenskausalität bei Aristoteles. "Kognitive Systeme" als Bezeichung für technisch-sensorische Systeme mit adaptiven oder gar Optimierungseigenschaften ist ebenso fragwürdig wie "künstliche Intelligenz". Der leichtfertige Umgang mit solchen Begriffen rund um die agentenbasierte Modellierung, die man heute nicht nur auf informationsverarbeitente digitale Entitäten (z.B. Bots), sondern auch auf Dynamiken von biologischen Zellen anwendet, so als ob diese eine eigene Kognition ausüben würden, zeigt, dass man Kognition auch schnell mal auf ein banales Stimulus-Response-System herunter brechen kann. Richtig ist, dass sich Modellvorstellungen zur Kognition zumindest partiell in einem technischen Sinne operativ umsetzen lassen. Eine Differentialanalyse menschlicher Kognition und die der technischen Varianten scheint mir so gesehen ein probates Vehikel zum eigentlichen Verstehen von Kognition zu sein.

Mein Interesse an Gehirndynamiken und (künstlichen sowie biologischen) kognitiven Systemen war zu Beginn eng mit dem Konzept der "operationalen Hermeneutik" verknüpft. Textinterpretationen sowie Interpretationen im verallgemeinerten Sinne, d.h. der Prozess des Verstehens, hat der Philosoph Wilhelm Dilthey gegen Ende des 19ten Jahrhunderts als einen mentalen Vorgang erachtet, der mit naturwissenschaftlichen Methoden nicht hinreichend erfasst werden kann, sondern ein Gegenstand der philosophischen Hermeneutik als Kulturpraxis ist, die zum naturwissenschaftlichen Erkenntnisprozess komplementär ist. Die Informatik setzt sich nun aber mit Wissens- und Informationswelten auf eine Weise auseinander, bei der die Verstehensprozesse operativ z.B. in Form von "intelligenten" Suchalgorithmen umgesetzt werden. Die Spamerkennung "interpretiert" Texte oder andere multimediale Formen (Bilder, Videos, etc.) für uns zur Entlastung, dasselbe gilt für Pornographiefilter und ähnliches, Zensurfilter aber vielleicht auch gegen uns. Hier wird ein Spannungsfeld eröffnet zwischen Kongnitionsentlastung bzw. -unterstützung einerseits und völliger Veräußerung von menschlicher Kognition mitsamt der anschließenden Entscheidungs- bzw. Handlungsanweisung an künstliche Entitäten andererseits, also einer Verdinglichung des Kognitionsprozesses.

Für mich folgt, dass in meiner Forschungs- und Entwicklungstätigkeit künstliche neuronale Netze und kognitive Systeme immer aus der Perspektive der Unterstützung der menschlichen Kognitionsleistung gesehen werden, jedoch keineswegs als deren Ersatz. Die Prozesse des Gehirns zu verstehen und technisch umzusetzen ist freilich wichtig. Man sollte sich aber im Klaren sein, dass diese Prozesse nur partiell in Form von Algorithmen und technischen Prozessen operationalisierbar sind. Vor allem sollten aber performative Eingriffsmöglichkeiten während des Vollzugs gewährleistet bleiben, so dass die Automaten nicht zum Selbstläufer werden.

Die Frage, bis zu welchem Grade Hermeneutik operationalisierbar ist, bleibt offen. Im Zuge immer häufiger stattfindenden automatischen Entscheidungen durch algorithmische Auswertung von Datenbanken ergibt sich ein dringend zu diskutierendes informationsethisches Problem.

Eine künstlerische Auseinandersetzung mit Gehirndynamik: Liquid Perceptron.